Bruch mit Tabus: Welche Vorteile bringt eine Mitgliedschaft in der Nordatlantischen Allianz mit sich
Bruch mit Tabus: Welche Vorteile bringt eine Mitgliedschaft in der Nordatlantischen Allianz mit sich
In jeder Gesellschaft gibt es Themen, die man lieber auslässt. Es geht dabei um bestimmte Fragen, die nur von einer Minderheit eröffnet werden, welche dabei Gefahr läuft, wegen der Zerschlagung des vorherrschenden Diskurses verbannt zu werden. Zu diesem Themenkreis gehört in Serbien, ohne jeden Zweifel, das Verhältnis zwischen Serbien und der NATO. Aus diesem Grund hat die Nachricht (die der Fachöffentlichkeit bereits über eine gewisse Zeit bekannt war), dass im Oktober kommenden Jahres auf Serbischem Gebiet die Militärübung „Regex 18“ stattfinden soll, auch so viel Staub in der hiesigen Öffentlichkeit aufgewirbelt. Selbst Verteidigungsminister Aleksandar Vulin hat versucht, die Situation mit einer Behauptung zu entschärfen, dass es sich dabei eigentlich nicht um eine Militärübung mit der NATO handle, die in Serbien stattfindet, sondern um eine „regionale Initiative“. Doch da in der Saison Frühling-Sommer 2017 offensichtlich die Eröffnung von innerstaatlichen Dialogen über wichtige staatliche Fragen in Mode gekommen ist, wäre es vielleicht nicht schlecht, eine „institutionalisierte“ Diskussion darüber einzuleiten, was Serbien bekommen würde, wenn es sich für einen NATO-Beitritt entschließen würde.
Das Gegenargument dazu ist allgemein und gut bekannt und lässt sich auf den Satz reduzieren: „sie haben uns bombardiert“. Einerseits kann dabei kaum jemand in Frage stellen, dass der NATO-Eingriff rechtlich und moralisch von zahlreichen Aspekten aus lückenhaft war. Doch so tragisch und traumatisch die Erfahrung Serbiens aus dem Jahr 1999 auch gewesen war, leidet dieses Argument dennoch unter einer logischen Inkonsequenz. Die NATO ist ein militärisches Bündnis, das seit der kürzlichen Aufnahme Montenegros 29 Länder umfasst. Demnach existiert die NATO nicht als eigene Entität, die ihre Entscheidungen unabhängig vom Willen der Mitgliedsländer trifft. In diesem Sinne wurde die Entscheidung über die Luftangriffe gegen die BR Jugoslawien nicht von der NATO getroffen, sondern vielmehr von den Mitgliedsländern der Nordatlantischen Allianz. Zudem ist auch kaum bekannt, dass jeder Mitgliedsstaat während der besagten 78 Tage langen Luftangriffe den Eingriff hätte beenden können. Und doch waren derartige Argumente im Rahmen des kürzlichen Besuchs von Präsident Aleksandar Vučić in Washington nicht zu hören. Die Integration in der Europäischen Union wird von der Mehrheit der Bevölkerung nicht in Frage gestellt, obwohl die meisten Mitgliedsstaaten zugleich auch 1999 Mitglieder der NATO waren.
Trotz des logischen Defizits am besagten Argument ist der Standpunkt über die serbische Mitgliedschaft in der NATO in der Öffentlichkeit schon jahrelang wie versteinert. Laut jüngsten Untersuchungen des Instituts für Europäische Angelegenheiten aus dem März dieses Jahres wird die serbische Mitgliedschaft in der NATO von lediglich 11 Prozent der Bürger unterstützt. Dagegen stehen sogar 84 Prozent, die sich ausdrücklich gegen den Beitritt Serbiens zu dieser militärischen Allianz aussprechen. Und gerade diese Angaben sind die Antwort auf die Frage, warum der Umfang der Zusammenarbeit zwischen Serbien und der NATO verdeckt und minimalisiert wird.
Und während in Belgrad über die Qualität der Zusammenarbeit mit der NATO geflüstert wird, wird man Ihnen in Brüssel offen sagen, dass diese Zusammenarbeit sehr gut ist. Serbien wurde noch 2006 aufgefordert, sich dem Programm „Partnerschaft für den Frieden“ anzuschließen, und seit 2015 wird ein Individueller Aktionsplan für Zusammenarbeit, das sog. IPAP-Abkommen angewandt. IPAP stellt die am tiefsten reichende Form der Zusammenarbeit zwischen der NATO und einem Land dar, das kein Mitgliedsstaat werden will. Dabei ist die Form der Zusammenarbeit vollkommen auf die Möglichkeiten und die Bedarfe des jeweiligen Staates abgestellt und abgestimmt. Obwohl zeitweilige Militärübungen den offensichtlichsten Aspekt der Zusammenarbeit bilden, werden durch IPAP wesentlich mehr Bereiche abgedeckt, als lediglich der militärische. Dieses erstreckt sich auf die Außen- und Sicherheitspolitik, Wirtschaftsreformen, den Bereich der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, das Krisen-Management-System… Dabei sind die durch IPAP festgelegten Aktivitäten weitgehend deckungsgleich mit den Aktivitäten aus den Aktionsplänen der verschiedenen Verhandlungskapitel mit der EU, wodurch auch das Verfahren der europäischen Integration beschleunigt wird. Und doch, was würden wir dadurch bekommen, wenn wir uns dazu entschließen würden, einen Schritt weiter zu gehen und zu einem Mitgliedsstaat zu werden? Vladimir Radulović, Exekutivdirektor des Atlantikrates in Serbien, zählt aus dem Stehgreif eine Liste von Vorteilen auf.
„In erster Linie geht es um Artikel 5. des Nordatlantischen Abkommens. Im Falle eines NATO-Beitritts würden die übrigen Mitgliedsländer einen Angriff gegen uns als Angriff gegen sich selbst betrachten. Wir würden zu einem Mitgliedsstaat des stärksten militärischen Bündnisses weltweit werden. Dann würde durch die Mitgliedschaft auch das Verfahren der Modernisierung und Professionalisierung des hiesigen Verteidigungssektors beschleunigt werden“, meint Radulović.
„Ein Vorteil wäre in der Wirtschaft zu spüren“, führt Radulović weiter aus. Die Aufnahme würde, seiner Ansicht nach, den Markt der Rüstungsindustrie bedeutend für uns öffnen, und die Stabilität, die eine Mitgliedschaft impliziert, wäre ein kräftiges förderndes Signal an potentielle ausländische Investoren.
„Durch die Mitgliedschaft würden wir das internationale Ansehen Serbiens drastisch steigern. Zudem bin ich fest davon überzeugt, dass dadurch auch die Zeit halbiert würde, die notwendig ist, um Mitglied in der Europäischen Union zu werden“, fügte Radulović dezidiert hinzu.
Und tatsächlich, wenn man sich die Liste der Mitgliedsstaaten von NATO und EU ansieht, ist es unmöglich, keine Parallelen zu ziehen. Sagen wir einmal, dass alle postsozialistischen Länder, die Mitglieder der EU sind, gleichzeitig auch bei der NATO sind. Und wenn wir uns zu diesem Schritt entscheiden würden, dann würde dies, Radulovićs Worten nach, wesentlich schneller gehen, als man sich das allgemein vorstellt.
„Wenn wir uns dazu entscheiden würden, der NATO beizutreten, dann würden wir meiner Meinung nach innerhalb von drei Jahren Mitglied werden. Für den technischen Teil der Arbeit würden wir etwa ein Jahr benötigen. Wesentlich länger würde das Verfahren der Ratifizierung unserer Aufnahme in den Parlamenten der Mitgliedsländer dauern. Es wäre zu erwarten, dass gewisse Länder, wie Albanien und Kroatien, dieses Verfahren durch Aufstellung von gewissen Bedingungen verlängern würden, doch ich bin davon überzeugt, dass Serbien innerhalb von drei Jahren zu einem NATO-Mitglied werden könnte“, so Radulović.
Doch selbst wenn die öffentliche Meinung nicht in dem Maße gegen die NATO eingestellt wäre, wie dies der Fall ist, würde ein hypothetischer Weg Serbiens in der Richtung der Nordatlantischen Allianz auch eine Veränderung des Kosovo-Status erfordern. Im Sinne der Ausführungen von Radulović sieht die NATO mit Argwohn Aufnahmen von Ländern entgegen, die keine klar definierten Grenzen haben.
„Die Frage des Kosovo im Zusammenhang mit einer Aufnahme ist äußerst komplex. Bei der NATO gibt es auch Mitgliedsländer, die die Unabhängigkeit nicht anerkannt haben. Sicherlich müsste ein Modell gefunden werden, durch welches diese Frage vor einer Aufnahme geregelt werden würde“, meint Radulović.
Es ist Realität, dass eine eindeutige Mehrheit der serbischen Bürger auch nur den Gedanken an eine NATO-Mitgliedschaft ablehnt. Zudem sind auch jene politischen Parteien rar, die die Doktrin der militärischen Neutralität in Frage stellen, welche auf einem Satz aus der parlamentarischen Resolution fundiert wird. Und doch, in einer Gesellschaft, die danach strebt, sich als demokratisch zu bezeichnen, darf keine Frage als Tabu gelten. Jedes Thema, und somit auch jenes über die serbische Mitgliedschaft in der NATO, muss in der öffentlichen Diskussion eröffnet werden.
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